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10.3.7 Exkurs: Ketteler-Siedlungen im Saarland

Anfänge und Organisation

Die Ketteler-Siedlungen im Saarland wurden überwiegend durch Eigenleistung errichtet. Die Bauwilligen schlossen sich dazu ortsweise in Selbsthilfe-Vereinen zusammen, die nach dem Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel Maria Freiherr von Ketteler  benannt wurden. Ketteler (1811 – 1877) gilt er als einer der Mitbegründer der katholischen Soziallehre. Sein unermüdlicher Einsatz galt der Linderung des durch Armut, Krankheit. [1]
Der erste Ketteler-Verein im Saarland wurde am 8. August 1948 auf Initiative des katholischen Pfarrers Peter Theis in Hühnerfeld, heute Stadtteil von Sulzbach, gegründet.[2] Theis wollte nach dem Motto "Nicht klagen, handeln!" dazu beitragen, die Wohnungsnot nach dem Ende des 2. Weltkriegs zu bekämpfen.[4], [5] Theis (1898-1951) war ab 1937 Pfarrer an St. Marien in Hühnerfeld.[6]mit weiteren Lebensdaten
Der Ketteler-Verein Hühnerfeld stand gemäß Satzung § 3 (Mitgliedschaft) jedem Unbescholtenen und Gutbeleumdeten ohne Rücksicht auf Religion und politische Einstellung offen.[7] mit weiteren Auszügen aus der Satzung
Dem Hühnerfelder Vorbild folgten weitere Gruppierungen im Saarland, so dass bis Mitte der 1950er Jahre 57 weitere Ketteler-Vereine in verschiedenen Orten mit entsprechenden Bauvorhaben gegründet wurden. Im Juli 1950 schlossen sich die Vereine zu einer Dachorganisation mit Sitz in Saarbrücken zusammen.[2], [5] Theis wurde zum Vorsitzenden gewählt. Die Dachorganisation war eine Interessenvertretung gegenüber Dritten und unterhielt ein Schiedsgericht für die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Vereinsmitgliedern und dem jeweiligen Verein.[9]

Prinzipien der Bautätigkeit
Die örtlichen Ketteler-Vereine kümmerten sich um Grundstücksbeschaffung, Erschließung, Planung, Baugenehmigung, Finanzierung, Materialbeschaffung, um die Vergabe von Gewerken und um die bautechnische Anleitung und Beratung, wenn dafür niemand aus den eigenen Reihen zur Verfügung stand. [3], [5]
Jeder Bauwillige leistete tausende von Arbeitsstunden, die neben der Berufs- oder anderer Tätigkeit in der Freizeit erbracht und die in einem Mitgliedsbuch quittiert wurden. Die Angaben zu der Stundenzahl schwanken abhängig von Quelle und Ort, liegen aber im Bereich von 3.000 bis über 6.000.[10], [13]
Durch die Eigenleistungen, Vorteile bei der Finanzierung und bei der Materialbeschaffung ergaben sich Ersparnisse in der Größenordnung von 40 bis 50 %.[4], [5]
In [17] werden für das Jahr 1949 die Baukosten inklusive Bauplatz angegeben:
Einfamilienhaus: 240.000 ffrs (8.650 € Kaufkraftäquivalent 2023)
Zweifamilienhaus: 350.00 ffrs. (12.600 € Kaufkraftäquivalent 2023).[11], [12]
Vergleicht man die Zahlen mit den in [2] angegeben Rohbaukosten, dürfte es sich bei den vorher genannten Kosten nur um die für den Rohbau gehandelt haben.
In [2] werden für ein Kettelerhaus normaler Größe (darunter sei der meistgebaute Typ zu verstehen) 800.000 ffrs. im Jahr 1949, 1.000.000 ffrs. im Jahr 1950 und sogar 1.200.000 ffrs. für das Jahr 1951 angegeben, in jedem Fall über 300.000 € im Kaufkraftäquivalent 2023.
Die genannten Zahlen beziehen sich auf die Materialkosten und beinhalten nicht die geleisteten Arbeitsstunden. 100 Stunden wurden z.B. in Hühnerfeld mit 10.000 ffrs. bewertet, entsprechend ca. 360 € (Kaufkraftäquivalent 2023).
Zur Deckung der laufenden Kosten und zur Bedienung der Kredite zahlte jedes Vereinsmitglied abhängig vom Objekt und den persönlichen Möglichkeiten monatlichen Betrag an den Verein.  Im Ketteler-Verein Malstatt-Burbach (Saarbrücken) wurde der monatliche Mindestbeitrag auf 5.000 Französische Francs (ffrs) festgesetzt.[13] Dieser Betrag entspricht  ca. 180 € (Kaufkraftäquivalent 2023). [11], [12] In Hühnerfeld lag die Monatsrate zwischen 1.000 und 5.000 ffrs [15], entsprechend 35 bis 180 € (Kaufkraftäquivalent 2023).
Jedes Haus blieb nach Fertigstellung im Eigentum des Vereins und wurde erst nach vollständiger Tilgung der Schulden dem Vereinsmitglied im Grundbuch überschrieben.
Während der Bauphase arbeiteten alle örtlichen Vereinsmitglieder an allen Objekten ohne zu wissen, welches Haus ihnen später zugeteilt wurde. Die Zuteilung erfolgte nach einem Punktesystem mit den Faktoren geleistete Arbeitsstunden, Geldeinlage und soziale Dringlichkeit, in manchen Vereinen auch durch Losentscheid. [2], [5], [3], [13]
Die Häuser waren 1½- oder 2½-geschossig mit Satteldach und wurden meist als Doppelhäuser mit jeweils zwei Wohnungen gebaut, wobei die zweite Wohnung vermietet wurde, Einfamilienhäuser waren seltener.[2]  Im Ketteler-Verein Malstatt-Burbach wurde sogar als Voraussetzung für die Gewährung des Darlehens festgelegt, dass zweite Wohnung, bestehend aus zwei Zimmern, Küche und Bad an mindestens drei Personen vermietet werden musste und dass die monatliche Miete den Betrag von ffrs. 9.000,- (nach Kaufkraft 2023 ca. 325 €) nicht übersteigen durfte.[13]
Die Fertigstellungsdauer der Häuser betrug zwischen 4 und 6 Jahren. [3], [14]

Übersicht über Ketteler-Siedlungen im Saarland

lfd.
Nr.

Ort

Anzahl
Häuser*)

Bemerkungen

1

Altenkessel

15


2

Altenwald

41

heute Stadtteil von Sulzbach;
Ketteler Straße

3

Bliesmengen

17

Bauzeit 1950-1954

4

Bliesransbach

24


5

Bildstock

86


6

Bübingen

12


7

Dirmingen

39


8

Dudweiler

123

Pfaffenkopf, Rentrischer Straße, Gehlenbergstraße;
Bauzeit 1950-1956 [24]

9

Ensheim

33

Bauzeit 1948–1952 [18]

10

Fechingen

15


11

Neufechingen

30

Grundsteinlegung 1953

12

Fischbach

79


13

Frankenholz

23

heute Stadtteil von Bexbach;
Straßenzüge mit dem Namen "Kettelersiedlung"

14

Freisen

12


15

Friedrichsthal

35

mehrere Bauabschnitte, erster Bauabschnitt: Ostschachtsiedlung

16

Gersweiler

37


17

Göttelborn

45


18

Hassel

18

Vereinsgründung 1949

19

Heiligenwald

40

Vereinsgründung 1949

20

Homburg-Stadt

38


21

Homburg-Erbach

67

Vereinsgründung 1949

22

Hühnerfeld

97

Grundsteinlegung des 1. Hauses bereits im Dez. 1948

23

Hülzweiler

19

in Tabellen falsche Schreibweise ("Hülsweiler"); heute Ortsteil von Schwalbach

24

Illingen

57

Vereinsgründung 1949,
Bauzeit 1950-1958

25

Kirkel

10


26

Klarenthal-Krughütte

27

2 Baugruppen

27

Kleinblittersdorf

23


28

Köllerbach

49


29

Landsweiler I.

26

Rohbauten von 2 Doppelhäusern und 1 Einzelhaus bereits 1949 fertiggestellt

30

Landsweiler II.

23


31

Lebach I.

57

Vereinsgründung 23.01.1949
Grundsteinlegung 03.07.1949
Richtfest bei 5 Doppelhäusern bereits 1949 [19]

32

Lebach II.

42


33

Ludweiler/Warndt

19


34

Marpingen

67

Vereinsgründung 1949

35

Neunkirchen-Stadt

66

Vereinsgründung 1949

36

Neunkirchen-Wellesweiler

24

Richtfest des ersten Doppelhauses Ende 1950

37

Püttlingen

48


38

Quierschied

37


39

Rentrisch

29


40

Riegelsberg

32

Vereinsgründung 1953

41

Saarbrücken-Christkönig

14


42

Saarbrücken-Jägersfreude

30

Achenbachstraße?

43

Saarbrücken-Malstatt (Rastpfuhl)

29

s. Kapitel 10.3.4

44

Saarbrücken-Rußhütte

24

Vereinsgründung 1949
3 Doppelhäuser im Juli 1952 im Rohbau fertig[20]; Starenstraße

45

Saarlouis-Fraulautern

26

3 x 6 Häuser mit insgesamt 26 Wohnungen

46

Saarlouis-Roden

16


47

Scheidt

50


48

Spiesen

5


49

St. Ingbert

116

Vereinsgründung 31. Mai 1949 [21]
116 Häuser (9 EFH, 52 DHH, 1 MFH (3 Whg.), 13 MFH (4 Whg.)

50

Sulzbach

30


51

Völklingen-Fenne

13


52

Völklingen-Fürstenhausen

22

22 Häuser mit 2 1/2 Zimmer, Küche, Bad
Bauzeit 1949-1953

53

Völklingen-Geislautern I.

28

Baukosten mit Bauplatz:
EFH: 240.000 ffrs
Zweifamilienhaus: 350.00 ffrs.

54

Völklingen-Geislautern II.

5


55

Völklingen-Heidstock

17

Vereinsgründung 30. April 1949;
Gerhardstraße, Neckarstraße, Klausenerstraße [22];
Bauzeit 1949-1953 [23]

56

Völklingen-Wehrden

19


57

Urweiler

28

2 Bauabschnitte;
heute Stadtteil von St. Wendel

58

Wemmetsweiler

23



Tab. 10.3-1: Ketteler-Siedlungen im Saarland nach [3], ergänzt durch Informationen aus [16], sofern nicht gesondert angegeben oder trivial
*) Die Angaben  aus den verschiedenen Quellen sind teilweise widersprüchlich. Daher können die Zahlen in der Tabelle nur als Anhaltspunkt dienen. Ursache dafür kann z.B. ein unterschiedlicher Erhebungszeitpunkt sein.
Als Zwischenbilanz werden in [25] werden folgende Fertigstellungszahlen genannt: 1949/50: 465 Häuser, 1951: 420 Häuser, 1952: 426 Häuser - In der Summe also 1.311 Häuser, was in der Summe mit der Zahl aus [26] übereinstimmt.
Gesichert scheinen auch die Gesamtzahl der Ketteler-Siedlungen im Saarland (58), die Summe der gebauten Häuser (ca. 2.000) und die Bauzeiten (ab 1948 bis meist Mitte der 1950er Jahre).

Karte Ketteler-Siedlungen im Saarland
Abb. 10.3-11: Ketteler-Siedlungen im Saarland (Visualisierung der Tabelle 10.3-1)

Problempunkte

In [9] werden folgende Problempunkte bei der Bauausführung genannt:
Ketteler-Siedlungen in Deutschland
Auch außerhalb des Saarlandes entstanden in der Bundesrepublik in der Zeit nach Ende des 2. Weltkriegs zahlreiche Ketteler-Siedlungen. Die Siedlung in Nürnberg südlich der Trierer Straße gilt als eigener Stadtteil und dürfte mit ca. 5.000 Wohnungen in zweigeschossigen Doppel- und Reihenhäusern die größte in Deutschland.[27]
Die Ketteler-Siedlung in Mainz wurde bereits in den 1920er und 1930er Jahren durch die Ketteler Baugenossenschaft Mainz eG errichtet. Dabei war ähnlich wie später nach dem 2. Weltkrieg die herrschende Wohnungsnot Auslöser für die Initiative, hier jedoch in Form einer Genossenschaft. Außerdem entstanden keine kleinen Wohneinheiten, sondern Mehrfamilienhäuser in Blockbebauung. [28]


Quellen und weiterführende Informationen:
  1. Informationen über Bischof Ketteler auf den Internet-Seiten der Wilhelm Emmanuel von Ketteler-Stiftung
  2. Kaplan Dr. Spang, Alfons (Hrsg.): Die Ketteler-Vereine des Saarlandes, das Werk von Pastor Peter Theis. Neunkirchener Druckerei und Verlag, 1953
  3. Geschichtswettbewerb im Saarland 2022/2023 – Wegweiser für saarländische Teilnehmerinnen und Teilnehmer, erstellt vom Stadtarchiv der Landeshauptstadt Saarbrücken (PDF-Datei auf den Internetseiten der Körber-Stiftung)
  4. Ketteler Wohnungsbau an der Saar In: NdS, Jg. 48, Nr. 12 vom 23. März 1952, S. 184
  5. Kraus, P.J.: Segen aus dem Bergmannsdorf Ein soziales Wohnungswerk der saarländischen Katholiken. In: Die Furche, österreichische Wochenzeitschrift, Zeitschriften-Betriebsgesellschaft m.b.H. & CoK G, Wien, 24. September 1953
  6. Informationen über Peter Theis auf den Internetseiten "Saarland Biographien"
  7. Die Ketteler-Vereine breiten sich aus. In: Der Saarbergknappe Organ der Gewerkschaft Christlicher Saarbergleute, Juli 1949, S. 3, ZDB-ID: 3167840-3
  8. Besch, Ingeborg: Die Kettelersiedlung. Katholische Sozialpolitik und ihre städtebaulichen Auswirkungen im Saarland nach 1945. Informationen zum Vortrag am 30. Mai 2018, online
  9. Von der Stunde "0" bis zum Tage "X" - Der saarländische Bergmannswohnungsbau nach dem 2. Weltkrieg 1945 bis 1959. Online auf den Internetseiten der Stiftung für Wohnungsbau der Bergarbeiter (StWB), Saarbrücken
  10. "Wir haben einfach weiter gemacht". In: Saarbrücker Zeitung, Online-Artikel vom 21.07.2009
  11. Devisenkurse für Französische Francs (ffrs) in deutscher Währung - Vs 801 der Deutschen Bundesbank, Anlage II, S. 2, Pkt. 10, PDF-Datei auf den Internetseiten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz
  12. Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen, PDF-Datei auf den Internetseiten der Deutschen Bundesbank
  13. Westenburger, Rudolf : Der Ketteler-Verein Malstatt-Burbach baut auf dem Rastpfuhl. In: Der Rastpfuhl – Geschichte eines Siedlungsgebietes und seiner Bewohner. Herausgeber: Deutscher Siedlerbund Landesverband Saarland e. V., Siedlergemeinschaft Saarbrücken-Rastpfuhl e. V., Volkshochschule Stadtverband Saarbrücken. November 1999
  14. Auch Karmanns kettelten ihre eigenen vier Wände. In: Saarbrücker Zeitung, online 19. März 2012
  15. Eberle, Manfred: Dienstvorschlag für das Jahr 1949. Papier des Internationalen Zivildienst Gruppe Saar, Dok.-Nr. : 48 11 14 - 1; PDF-Datei online auf den Internetseiten des Service Civil International - International Archives
  16. Nach der Schicht - Arbeit am Volk im Dienste Gottes - religiöse Familienzeitschrift, Wiebelskirchen, erschienen 1905-1974, verschiedene Ausgaben,  ZDB-ID: 203313-6
    im Folgenden mit NdS abgekürzt
  17. NdS, Jg. 45, Nr. 45 v. 6. November 1949, S. 516
  18. Philipp, Markus: Lexikon der Saarbrücker Straßennamen. Geistkirch-Verlag, 2019
  19. Lebacher Historischer Kalender 1998 - Historischer Verein Lebach e.V.-5. Folge: Lebacher Persönlichkeiten, bekannt - berühmt - rühmenswert; Herausgeber Volkshochschule Lebach, PDF-Datei online
  20. 300 Jahre Rußhütte – 1721–2021, herausgegeben vom Turnverein Rußhütte, von der Karnevalsgesellschaft "Die Eule" und von der Initiative "WIR auf der Rußhütte" im Mai 2022, Kapitel Geschichte der Rußhütte, Abschnitt 20. Jahrhundert, ohne Seitenangabe
  21. Auch Karmanns kettelten ihre eigenen vier Wände. In: Saarbrücker Zeitung, online 19. März 2012
  22. Heinze, Jörg: Ein wichtiger Architekt des Heidstocks. In: Saarbrücker Zeitung, online 07. April 2008
  23. Heidstocker Geschichte. Online auf den Webseiten des Verband Wohneigentum Saarland e.V.
  24. In Dudweiler wird Elfriede Wunn 90 Jahre alt. In: Saarbrücker Zeitung, online 16. Juni 2019
  25. NdS, Jg. 50, Nr. 2 vom 10. Januar 1954, S. 29
  26. NdS, Jg. 49, Nr. 23 vom 7. Juni 1953, S. 364
  27. Informationen über Trierer Straße - mit Kettelersiedlung und Falkenheim Ost auf den Internetseiten http://www.nuernberg-aha.de
  28. Geschichte - Die Entstehung der Ketteler Baugenossenschaft Mainz eG. Informationen auf den Internetseiten der  Baugenossenschaft

NdS = Nach der Schicht - Arbeit am Volk im Dienste Gottes - religiöse Familienzeitschrift, Wiebelskirchen,
erschienen 1905-1974, verschiedene Ausgaben,  ZDB-ID: 203313-6